Von Munib Agah:
Für den Unterbezirk Erlangen bin ich auf dem Sonderparteitag in Bonn gewesen. Der einzige inhaltliche Tagesordnungspunkt: Beratung der Aufnahme von Verhandlungen zur Regierungsbildung und Abstimmung zum weiteren Vorgehen.
Dass es bei der Abstimmung eine knappe Kiste werden wird, war den Mitarbeiter:innen im Willy-Brandt-Haus wohl schon Tagen zuvor bewusst. Auf den Social-Media-Kanälen wurde – teilweise leider auch auf eine sehr unfaire Art und Weise – intensiv für eine Große Koalition geworben. Für einige Stunden war auf der SPD-Seite auf Facebook ein Beitrag eines Drehbuchautors zu sehen, der einigen Landesverbänden und insbesondere den Jusos vorgeworfen hat, mit ihrer Haltung gegen die Große Koalition (GroKo) die Partei ins Chaos zu stürzen. Nach heftiger Kritik wurde dieser Beitrag immerhin wieder gelöscht.
Auf dem Parteitag durften neben Martin Schulz noch Ministerpräsidentin Malu Dreyer und NRW-Landesvorsitzende Mike Groschek eine ausführliche Rede ohne Redezeitbeschränkung halten. Beide sollten lediglich ein Grußwort halten. Dennoch haben beide kräftig für die Große Koalition die Werbetrommel gerührt. Andrea Nahles und Olaf Schulz sollten aus der Bundestagsfraktion bzw. der Antragskommission berichten. Letzten Endes wurde auch dies dazu genutzt, um sich ohne Redezeitbeschränkung für die Große Koalition auszusprechen. Immerhin haben beide sich in ihren Beiträgen auf etwa 10 Minuten begrenzt. Alle anderen Genoss:innen, die zu Wort gekommen sind (es gab mehr als 100 Wortmeldungen, 42 haben die Möglichkeit bekommen zu reden) hatten eine Redezeitbeschränkung von 3 Minuten. Somit hat man keine:n Gegner:in der Großen Koalition (NoGroKo) so ausführlich wie die oben genannten reden lassen. Beim Juso-Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert hat man es sich allerdings nicht getraut ihn nach drei Minuten zu unterbrechen.
Obwohl die NoGroKo-Fraktion offensichtlich in der Debatte benachteiligt wurde, habe ich den Parteitag als sehr spannend empfunden. Die Debatte über die Koalitionsverhandlungen wurde von beiden Seiten sachlich und mit viel Leidenschaft geführt. Insbesondere die Jusos haben mit ihrem professionellen und sehr differenzierten Auftreten den Parteivorstand in die Defensive gedrängt. Selbst Teile der konservativen Presse, die sonst kein gutes Haar an den Jungsozialist:innen lässt, haben nicht nur Kevin Kühnert, sondern auch andere Jusos wie die Berliner Juso-Landesvorsitzende Annika Klose in höchsten Tönen gelobt. Viele junge, kluge Menschen (und vor allem auch viele Jusos-Frauen!) sind mit grandiosen Reden in die Debatte gegangen. Darüber habe ich mich sehr gefreut und es stimmte mich trotz der schwierigen Situation, in der sich die Partei befindet, optimistisch.
Nach Ende der Debatte wurde über den Antrag zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen abgestimmt, der um einen zahnlosen Kompromiss ergänzt wurde. Es soll in den Koalitionsverhandlungen nochmals versucht werden die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und den Einstieg in die Bürgerversicherung rein zu verhandeln. Falls dies aber nicht gelingt, ist kein Abbruch der Verhandlungen vorgesehen.
Bei der Abstimmung über diesen Antrag ist etwas passiert, womit ich auf keinen Fall gerechnet hätte. Die Abstimmung war so knapp, dass man von Seiten des Präsidiums nicht eindeutig erkennen konnte, ob die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen befürwortet wird. Es musste ausgezählt werden. Nach fünf Minuten war dann klar, dass sich lediglich 56 % der Delegierten für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausgesprochen haben. Ohne die Stimmen des Parteivorstands wären es nur 53 % gewesen.
Falls es auf dem Parteitag noch Delegierte gegeben haben sollte, die sich noch nicht sicher waren, wie sie abstimmen sollen, war es nicht Martin Schulz’ Rede, die die Delegierten überzeugt hat, sondern die von Andrea Nahles, Katharina Barley und Manuela Schwesig. Andrea Nahles hat eine sehr emotionale und geschickte Rede gehalten, in der sie auf die vermeintlichen(!) Schwächen in der Argumentation der NoGroKo-Fraktion eingegangen ist. Quittiert wurde ihre Rede von den Delegierten mit tosendem Applaus. Nicht ohne Grund haben deswegen nicht wenige Kommentator:innen die Behauptung vertreten, dass Andrea Nahles damit den Parteivorstand gerettet hat.
Ich mache schon lange keinen Hehl daraus, dass ich ein entschiedener Gegner der großen Koalition bin. Auch 2013 habe ich beim Mitgliedervotum dagegen gestimmt. Dennoch habe ich dieses knappe Ergebnis auf dem Parteitag keinesfalls als Enttäuschung empfunden. Ganz im Gegenteil. Es haben so viele tolle junge Menschen auf diesem Parteitag gesprochen, die die Sozialdemokratie noch nicht aufgegeben haben. Sie werden früher oder später (so denn man sie nicht verhindern sollte) diese Partei in wichtigen Positionen prägen. Das macht trotz der schwierigen Situation, in der sich die SPD gerade befindet, Hoffnung für die Zukunft.
Die Reden zum Parteitag wurden u.a. von Phoenix auf Youtube hochgeladen. Der auf dem Parteitag beschlossene Antragstext kann auf der Homepage der SPD aufgerufen werden: